Wer bin ich denn nun?

Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich den überhaupt ich wäre, wenn ich die Krankheit nicht hätte. Wäre ich vielleicht jemand anderes, charakterlich und so?

Würden mich die Leute ohne Depression überhaupt wiedererkennen können? Ist die Krankheit so sehr ein Teil von mir, dass sie Teil meines Charakters ist? Wie sehr macht mich das aus?

Leute, die mich kennen, haben sicher den Eindruck, dass ich mich während schwerer depressiver Episoden verändere. Ich wirke dann wie ein anderer Mensch. Sie fragen sich, welche Person wahr ist. Ist der schwermütige Kerl echt und vielleicht nur ein Schauspieler, der alle in den leichten Phasen nur zum Narren gehalten hat?

Die Leute sehen mein depressives Verhalten und das bin ich dann halt. Ist ja auch verständlich. Ich verhalte mich so wie die Leute es wahrnehmen. So trete ich auf, so rede ich, so handle ich, also bin ich so. Das ist mein Bild nach Außen. Aber bin ich das wirklich?

Wahres Außen-Ich = Innen-Ich + Depression ???

Ich will etwas machen, die Krankheit hindert mich und Leute sehen nur, dass ich nichts mache oder nur halbherzig. Oder sie denken, dass ich nichts zu ende bringe. Aber ich nehme mein Bild im Inneren wahr und ich sehe mich als gesunder Mensch, der durch die Krankheit beeinflusst und gehindert wird. Ich bin eigentlich Ich ohne Depression! Mein wahres Ich liegt verschüttet unter der Depression.

Wahres Innen-Ich = Außen-Ich – Depression !!!

Wenn ich wirklich etwas machen will, aber es nicht kann und ich deshalb Nachteile im Leben habe oder leide, dann ist das die Depression. Das wahre Ich will etwas tun, die Depression hindert mich und das äußere Ich tut darum nichts und das nehmen die Leute wahr.

komplizierte Realität

In der Realität ist es meistens komplizierter. Mein Innen-Ich, also meine Gefühle und mein Handeln werden ja durch die Krankheit beeinflusst. Meine Eigenwahrnehmung ist schon verfälscht und keine Messgröße, der ich vertrauen sollte. Ich sollte mich selbst ständig fragen, ob und wie sehr meine Erkrankung meine Wahrnehmung trübt.

Beispiel: Ich mache eine Tätigkeit normalerweise jeden Tag. Dann beginne ich die Tätigkeit als Last zu empfinden und dann schiebe ich sie auf, dann erledige sie immer öfter nicht, bis ich sie am ende gar nicht mehr verrichte. Das passiert langsam im Laufe von Wochen oder Monaten. Wenn mir nicht bewusst wird, dass das eigentlich die Depression ist, könnte ich denken, dass ich nur „träge“ und „faul“ wäre.

unbewusst depressiv und…

Dann würde ich dann von meinem Innen-Ich schlecht denken und nicht bemerken, dass die Depression mich damit belügt. Leute, die mich von außen betrachten sehen mich aber vielleicht noch als funktionierend und unverändert. Also das innere Bild wäre für mich schlecht und das Bild nach außen wäre (noch) gut.

…ohne Kontrolle gegen die Wand

Mir ist ja aber noch überhaupt nicht klar, dass die Depression angeschlichen kommt. Sie ist unbewusst und gaukelt mir vielleicht noch vor, dass ich Kontrolle über die Situation hätte. „Ich sollte mal nicht so faul sein. Das schaff ich noch. Dann mache ich morgen etwas mehr. Ich muss mich nur etwas mehr anstrengen. Ich kann das noch aufholen.“ Doch ich habe schon längst keine Kontrolle mehr und fahre die Geschichte vor die Wand. Wenn es blöd läuft, dann merke ich erst dann, dass ich schon lange nicht mehr am Steuer sass. Die Depression hatte mich seit dem ersten Aufschieben meiner Tätigkeit unter Kontrolle. Der Crash war schon längst vorprogrammiert. Wäre ich achtsam gewesen, dann hätte ich die Depression bemerken können und das Schlimmste vielleicht noch verhindert. Thema Achtsamkeit…

Schuld, Lügen und Fassaden

Der Zeitpunkt als ich die Geschichte vor die Wand gefahren habe, ist der Zeitpunkt an dem die Leute spätestens bemerken, dass zwischen Sein und Schein meines Außen-Ichs, meines Handelns eine große Differenz liegt. Das empfinden sie vielleicht als eingestürzte Fassade oder sie glauben, ich hätte ihnen Lügen aufgetischt.

Solange die Depression unbewusst ist, nehme ich diese Differenz für mich als Schuld wahr. Ich mache etwas nicht , dafür will ich es dann morgen machen, mache es dann aber auch nicht und so bauen sich „psychische Schulden“ auf. Jeden Tag etwas mehr schlechtes Gewissen. Ich empfinde Schuld.

Diese Differenz zwischen Sein und Schein ist die Größe meiner Schuld und nach außen die Größe meiner „Lügenfassade“. Erst, wenn ich mir die Depression bewusst mache, dann kann ich erkennen, dass die Größe der Schuld, die ich fühle, proportional zur Schwere meiner Depression ist. Ist es eine Lüge, wenn mir die Wahrheit nicht bewusst ist?

Die Depression schlägt sich auf meine Gedanken und mein Handeln wieder. Und das nehmen andere Menschen als meine Persönlichkeit wahr. Aber sie ist in Wahrheit nur ein Zerrbild meiner wahren Persönlichkeit, verursacht durch die Depression. Das heißt natürlich nicht, das meine Persönlichkeit ohne Macke wäre, wenn ich bloß nicht die Depression hätte. Auch da gibt sicherlich noch einige Baustellen für mich. Aber eins nach dem anderem…

Ist meine Krankheit eine Charaktereigenschaft? Die Antwort ist einfach. Ich bin derjenige, der unter der Krankheit leidet. Sie verändert mich und das bedeutet das ich derjenige bin ohne Krankheit. Ich bin in den leichten Episoden meiner Depression „am meisten“ ich.

Au, ha. Das ist mal wirr… Ich muss mir das noch ein paar Mal selbst durchlesen. Solange lasse ich es zunächst so stehen.

Ich bin Ich ohne Krankheit!
Aber wer bin ich denn nur ohne Krankheit?

Zusammenfassend würde ich sagen, dass mein wahres Ich ohne die Krankheit ist. Aber die Krankheit beeinflusst mein Denken, meine Gefühle und mein Handeln. Mein wahres Ich habe ich seit Jahren nicht gesehen. Da habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten, wie ich mich in bestimmten Situationen ohne Depressionen fühlen würde…

Die Krankheit verändert mich nach außen. Ich mache mir das viel zu selten bewusst, dass ich in schweren Phasen einfach nicht ich selbst bin. Nicht ich denke negativ, sondern die Krankheit zwingt mich dazu. Ich will das nicht, aber es passiert trotzdem.

Zum Teil 2 geht es hier

Eine Antwort auf „Wer bin ich denn nun?“

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