Schnürsenkel und Gefühle

Kennst du das? Du machst etwas schon dein ganzes Leben lang, vielleicht dir mit Schnürsenkeln die Schuhe zubinden.

Fachmann ohne es zu wissen

Du denkst nicht darüber nach. Du machst es einfach, seit es dir jemand beigebracht hat. Ist doch nichts dabei. Schnürsenkel zubinden, einfach eine Schleife machen und fertig… Kinderkram und nicht der Rede wert.

Aber macht dich diese mitunter jahrzehntelange Erfahrung nicht zu einem Experten? Jawohl, ein Fachmann fürs Schnürsenkelknoten und Schleifenmachen! Wusstest du, dass du das bist? Ist doch toll.

Ich bin auch Schnürsenkelexperte. Vor einigen Monaten kaufte ich ein Paar Stiefel, meine derzeitigen Lieblingsstiefel. Sie haben auch Schnürsenkel und ich kann sie auch zu einer Schleife binden, kein Problem. Aber der Knoten und die Schleife lockern sich beim Tragen der Stiefel und schließlich sind die Schuhe auf. Dann mache ich erneut einen Knoten und Schleife, dieses Mal aber fester als vorher. Aber das nutzt auch nichts. Nach einer gewissen Zeit sind die Schuhe schon wieder auf. Das passiert fast immer, manchmal schon nach einigen Minuten, manchmal erst nach einigen Stunden und besonders ist der rechte Schuh betroffen, warum auch immer!

Die Sicht des Versagens und die Wahrheit

Als depressiver Mensch denke ich, dass ich offensichtlich ja kein Experte sein kann, wenn die Knoten immer wieder auf gehen. Ich bin offenbar nicht fähig anständige Knoten zu machen. Also bin ich Schuld, wenn sich meine Knoten immer lösen. Das ist peinlich, denn andere sehen schon an meinen Schuhen, dass ich ein Versager bin, der sich nicht einmal die Schuhe richtig zubinden kann. (Das ist etwas dramatisiert, aber es soll als Bild dienen.)

Die Wahrheit ist doch eine andere: Ich habe bislang alle Schuhe, die ich seit dem 5. Lebensjahr hatte, erfolgreich und zufriedenstellend mit Knoten und Schleife zugebunden. Ich bin also ein Experte! Und als solcher sage ich, dass es diese verdammten Schnürsenkel selbst sind! Sie sind aus einem Material gemacht, das zu glatt ist. Es haftet an sich selbst kaum und so löst sich jeder Knoten ziemlich schnell. Die Schnürsenkel sind fehlerhaft!

Der Experte und der Meister

Ich dachte mir heute morgen beim Kaffeemachen, solange wie ich wie die Kunst des Schnürsenkelbindens kenne, solange kenne ich doch all diese negativen Dinge wie Angst und Panik, Schwarzmalerei, Ohnmacht, Zweifel und Selbsthass. Kurz gesagt: Ich müsste doch Experte meiner Depression sein.

Aber statt Meister meiner Gefühle bin ich nur ihr unwerter Diener. Die Panik jagt mich, die Schwarzmalerei verdunkelt meine Sicht, die Ohnmacht macht mich passiv, der Zweifel nimmt mir die Hoffnung und der Selbsthass schnürt mir jeden Tag die Kehle etwas mehr zu und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich kann dem nicht entkommen. Alles ist in mir und ich komme nicht heraus. Ich ergebe mich manchmal den Gefühlen. Sie bestimmen dann alles: Meinen Selbstwert, mein soziales Leben, mein Denken wird von Hass und Neid erfüllt, ich bin so reizbar, aggressiv, dünnhäutig und in die Enge gedrängt. Ich fühle mich getrieben ohne die Möglichkeit anzuhalten oder den Kurs zu bestimmen. Ich kann nichts machen, ich bin fremdbestimmt. Es ist wie ein Autopilot des Horrors und dieser fliegt mich tief in die Hölle. Ich sollte dagegen kämpfen. Ich bin so müde.

Was ist anders als bei den Schnürsenkeln? Wieso springen die Gefühle so mit mir um? Bin ich denn kein Experte meiner Depression?

Doch! Ich bin Experte. Niemand sonst auf der Welt kennt mich besser. Experte zu sein macht mich aber nicht zum befehlenden Meister über meine Gefühle. Genauso wenig kann ich meinen Schnürsenkeln nicht befehlen sich nicht zu lösen. Tja, die hören einfach nicht auf mich und dabei habe ich die schon angeschrien! Wenn ich traurig bin, kann ich mir auch nicht befehlen glücklich zu sein. Das funktioniert auch nicht.

Ich weiß ja, wie ich die Schnürsenkel meiner Gefühle zubinde und ich weiß, dass bevor ein Knoten aufgeht, er sich zunächst lockert. Bei meinen Schnürsenkeln der Gefühle ist das ständig so, andauernd lockern sie sich. Manchmal merke ich, dass sie sich gelockert haben und ich binde den Knoten neu, noch bevor der alte ganz aufgegangen ist und alles ist gut. Und manchmal merke ich nichts und der Knoten ist anscheinend plötzlich auf. Hin und wieder bekomme ich auch von anderen Menschen den Hinweis auf meine offenen Schuhe. Aber darauf allein kann ich mich nicht verlassen. Eigentlich muss ich ständig aufpassen und jede Minute einmal auf meine Schnürsenkelknoten gucken, ob denn noch alles in Ordnung ist, sonst besteht die Gefahr, dass ich wegen der offenen Gefühlsschnürsenkel stolpere, oder, was auch vorkommt, in der Pedale meines Fahrrades damit verheddere. So entstehen Unfälle oder in meinem Fall schwere Depressionen.

Ich sollte wirklich öfters auf meine Schnürsenkel gucken.